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Die Rückkehr der Zukunft
"Retro-Futurismus" heißt der Stil des Millenniums

Von Wolfgang Pauser

Als unsere großen Raumschiffe in den 70er Jahren starteten, waren sie noch von Pappe. Jetzt, bei ihrer glorreichen Wiederkehr, bestehen sie aus Pixeln und Bytes. Die Zukunft kam wieder einmal anders, als wir dachten. Weiter entwickelt hat sich nicht die Weltraumfahrt, sondern die Medientechnik. Nur auf Illusionierungsmaschinen ist wirklich Verlaß.

Raumschiff, wir haben Dich wieder! Während die "USS Enterprise", eben noch in Wien materialisiert, nun nach Singapur fliegt (beamt?), um dort ihre "Star Trek World Tour" fortzusetzen, breiten sich "Starwars" in deutschen Kinosälen aus. "Die Saga wurde vor zwanzig Jahren entwickelt und hat sich seither kaum verändert", beruhigt Regisseur George Lucas seine treuen Fans.

Die Zukunft kehrt wieder und sieht dabei ziemlich alt aus: Von gestern sind heute nicht nur die neuesten Filme. "Retro-Futurismus" ist der Name eines umfassenden Trends. Ins Wohnzimmer stellt man sich wieder die raketenförmige Öl-Lampe mit ihren bunten, wabernden Luftblasen. Autos schmücken sich mit Formen aus jener glorreichen Phase ihrer Geschichte, als das Auto noch Zukunft versprach. Ob in der Mode oder im Design, in runden Formen und künstlichen Materialien: Die 70er Jahre wurden während der letzten Jahre aufgewärmt, nun kommen sie als opulentes Millenniums-Menü noch einmal auf den Tisch.

Nicht einmal die Kunst blieb verschont von diesem Haupt-Trend der Neunzigerjahre. Sie zog das sozial-utopistische Gedankengut der 70er Jahre wieder aus der Lade, um es in der trivialisierten Form des "Kuratoren-Diskurses" kurzerhand selbst zur Kunst zu erklären. In der Musik haben die Schlager von gestern eine besondere Form der Aufwertung erfahren. Man hört sie nicht bloß wieder oder verwandelt sie kunstvoll in elektrosynthetische Tracks, sondern genießt an ihnen die eigene Kompetenz, sie anders hören zu können - mit Ohren nämlich, die bereits versiert sind im Decodieren des Retrofuturismus. Mit Ohren, angespitzt wie die des Mister Spock. Die hohe Kunst, zwischen platter Wiederkehr, ewiger Fortsetzung und retrofuturistischem Kontextwechsel unterscheiden zu können, lernt man in speziellen Zeitschriften: "Wallpaper" und (in der September-Nummer) "Rosebud" widmen sich ganz der Pflege des subtilen Neo-Modernismus.

Die Vehemenz, mit der sich das Thema Zukunft gerade zum Ende des Jahrhunderts in der Alltagskultur zurückmeldet, könnte daher rühren, daß es seit dem Ende der Siebzigerjahre ein Schattendasein geführt hat. Weil die Jahrhundertwende 1999 zugleich ein Schritt ins dritte Jahrtausend ist, erhält die Magie der runden Zahl doppeltes Gewicht. Unter der Last dieses Gewichts empfindet man das Fehlen von Zukunftsperspektiven als bedrückend. Die Zahl "2000" war als bloße Zahl, kombiniert mit runder und breiter Typographie, in den Siebzigerjahren eine Modeerscheinung, eine Chiffre für die spezifische Zukunftsbegeisterung dieser Dekade.

Daß "2000" einmal Zukunft bedeutet hatte, macht das Fehlen euphorischer Zukunftserwartungen im heurigen Jahr umso peinlicher. Das Auseinanderklaffen zwischen dem Anspruch auf vorausschauenden Optimismus, den das Millennium nahelegt, und den nunmehr bemerkbaren Defiziten des Glaubens an Machbarkeiten und technische Problemlösungen gerinnt in der Zahl 2000 zum Symptom einer Ambivalenz gegenüber dem Zeitenwechsel. Man blickt in die Vergangenheit zurück und in die Zukunft nach vor und steht so ratlos wie illusionslos zwischen beiden. Der Stil des Retrofuturismus bringt diese Situation exakt zum Ausdruck. Wer sich heute fragt, wie denn die Zukunft aussehen könnte, dem bleibt sein inneres Auge leer. Schuld daran ist, daß diejenigen Technologien, die Entwicklungspotentiale enthalten, mit Defiziten an Sichtbarkeit geschlagen sind, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Die Computertechnik, von der man annehmen kann, daß sie die kommenden Jahrzehnte bestimmen wird, läßt sich nicht in Bilder einfangen; Mikroelektronik ist unanschaulich, die Verkleinerung der zentralen Funktionseinheiten von Maschinen bringt ein Darstellungsproblem mit sich. Der zweite Bereich ist die Nanotechnologie. Auch sie ist geschlagen mit Unsichtbarkeit: vom Atomaren kann man sich kein Bild machen. Die dritte und wichtigste Entwicklungsperspektive liegt in der Gentechnik. Diese wäre zwar bildlich kommunizierbar, unterliegt jedoch einem moralischen Bilderverbot. Es gilt die Regel: Du sollst Dir von Deinen Hoffnungen auf gesundheitsstrotzende und prächtig hochgezüchtete Menschenkörper kein Bild machen.

Den Grund dieses Bilderverbots kennen wir aus der Geschichte. Unanschaulichkeit, Unsichtbarkeit und Bilderverbot sorgen dafür, daß zum Jahrtausendwechsel die Zukunftsbilder fehlen. In diesen blinden Fleck schieben sich die stärksten Visualisierungen des Zukunftsgedankens, die das zwanzigste Jahrhundert hervorgebracht hat, ein. Bilder, die allemal aus der Vergangenheit kommen und Zukünfte zeigen, von denen wir bereits erfahren haben, daß sie so nicht kommen werden. Wir bemerken, daß vor allem die Zukunftsentwürfe der Siebzigerjahre als Bilder unüberbietbar sind. Die Zukunft ist, stilistisch betrachtet, schon vorbei. Was liegt näher, als auf der Suche nach den zurückgelassenen Zukunftshoffnungen in der Vergangenheit zu fahnden und jene Bilder wieder anzueignen, die einst Zukunft in Hülle und Fülle versprochen haben? Aus dem Schwanken zwischen einer Rückschau, ja einem Resümee des abgelaufenen Jahrhunderts und dem gebannten Blick übers Jahrtausend hinaus wurde der Stil des Retro-Futurismus geboren. Er ist das Symptom des Jahres 2000.

Der Retro-Stil befällt alle Arten von Produkten, von den Kleidern über die Uhren bis hin zu den Typographien. Freilich hat es im Laufe der Kulturgeschichte schon viele Rückwärtsgewandtheiten und Wiederaufnahmen gegeben. Doch die Revivals waren von ganz unterschiedlicher Art. Schon Renaissance und Historismus wandten sich nicht in gleicher Weise Vergangenheiten zu. In der zweiten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts gab es mehrere Rückwendungen. Die "Nostalgie-Welle" etwa erträumte sich tatsächlich eine wenn auch oberflächliche Rückkehr in eine angeblich bessere alte Zeit, wann immer die gewesen sein mochte. Der "Klassik"-Stil der Achtzigerjahre hingegen wollte die Insignien des Erb-Adels von 1900 (Marmor, Messing, Maßschuhe und englische Sakkos) in Zeichen des Arbeitseifers der New Yorker Yuppies verwandeln und ein überzeitliches Reich des Karrierebürgertums imaginieren. Zur gleichen Zeit etablierte sich eine ganz gegenteilige Rückwärtsgewandtheit, die Sehnsucht nach Natur und natürlichem Leben in der Grün-Bewegung. Yuppies wollten die Sozialgeschichte, Grüne die Technikgeschichte des Zwanzigsten Jahrhunderts rückabwickeln. Parallel dazu ereignete sich auf der Ebene der Hochkultur die Postmoderne als Kult vielfältiger Rückgriffe, die jedoch gemeinsam hatten, nicht zurück zu wollen. Im Gegensatz zur Yuppie- und Grünbewegung zielte der Postmodernismus nicht auf eine Rekonstruktion der Vergangenheit, sondern auf die Zertrümmerung der Einheit der Geschichte.

Im Gesamten war der vergangenheitsselige Zeitgeist der Achtziger wohl eine Reaktion auf die Enttäuschungen, in die die Euphorie des Modernismus durch dessen Entfaltung gekippt war. Der verlorene Glaube an die Machbarkeit und Beherrschbarkeit der vom Menschen in Gang gesetzten und mittlerweile verselbständigten Rationalitäten der Technik, der Kommunikation und der gesellschaftlichen Institutionalisierung ließ Vergangenes interessanter erscheinen als Künftiges. Dazu kam, daß die Zukunftswut der Moderne in den Siebzigerjahren ihren Höhepunkt erreicht hatte und daß mit der realisierten Weltraumfahrt, begleitet von Science-Fiction-Filmen und -Romanen, das Ultimum einer Weltüberschreitungsgeste ausagiert war. Noch heute kommen einem Bilder der Weltraumfahrt in den Sinn, wenn man sich aufgerufen fühlt, an Zukunft zu denken. Hört man das Wort "Zukunftsfilm", so denkt man automatisch an Raumschiffe, obwohl ein solcher Film ja auch von anderen erwartbaren Lebensbereichen handeln könnte als vom interstellaren Transport. Das Raumschiff ist als Zukunftsmetapher unüberbietbar, weil es die visuell undarstellbare Zeitdimension ins Räumliche umlegt: ins Bild jener weiten Entfernung, die von der Welt zu den Sternen besteht. Die Wiederaufnahme von Science-Fiction-Serien wie Star-Trek und Star-Wars in den Neunzigerjahren arbeitet sich an dem Problem ab, daß die stärkste Metapher für Zukunft schon zwanzig Jahre davor kreiert wurde.

Retro-Futurismus unterscheidet sich von Nostalgie dadurch, daß er nicht wirklich zurückwill und nichts rekonstruiert, sondern aus der Vergangenheit nur jene Elemente zitiert und sich anverwandelt, die ein unverwirklicht gebliebenes Zukunftspotential in sich zu tragen scheinen. Der Rückgriff auf futuristische Vergangenheiten erfolgt somit in vorwärtsgerichteter Absicht - ohne, daß damit jedoch realistische Hoffnungen verbunden wären. Anders als die resignierte Haltung der Postmoderne, die historische Zitate aus dem Zusammenhang riß, um den Zusammenbruch der Idee der linearen Fortschrittsgeschichte zu verdeutlichen, unterhält der Retrofuturismus ein heiteres, leichtsinniges, ironisches, jedenfalls aber positives Verhältnis zur Zukunft. Man trägt wieder Kunststoffkleider, diesmal jedoch nicht als Zeichen einer Fortschrittsgesinnung, sondern als unengagierte, an nichts ernsthaft glaubende Zuwendung zur eigenen Gegenwart. Der Retrofuturismus unterstreicht die Gegenwart, indem er sie flankiert - indem er sie von der Vergangenheit wie von der Zukunft her gleichsam in die Zange nimmt. Unter diesem Druck tritt hervor: der absolute Moment, wie er einer Jahrtausendwende entspricht. Retrofuturismus ist weder negativistisch im Sinne des "No future", noch teilt er mit der Moderne den vorausstürmenden Überwindungsgestus. Das ironische Zitieren der Futurismen der Siebzigerjahre, des letzen Jahrzehnts, in dem es noch Zukunft im naiven Sinne gab, erfolgt nur mit leichter Wehmut, dafür aber auch nur mit schwacher Hoffnung darauf, daß es eine Zukunft geben und diese milder ausfallen wird, als die kühnen und wahnsinnigen Träume des Zwanzigsten Jahrhunderts es vorhersehen wollten.


in der Tageszeitung "DIE ZEIT" erschienen