more culture>>>
Diesseits der Lungenmaschine

Von Wolfgang Pauser

Wolfgang Pauser 1

Ich rauche gern sagt nur noch das Model in der Reemtsma-Zigarettenwerbung (und auch das nicht mehr lange, wenn die Verbote sich durchsetzen). Ich möchte aufhören sagen die Weiterraucher, beinahe alle. Ich aber würde gern rauchen und kann nicht.

Mehrmals schon habe ich versucht, mich als Raucher zu starten, wochenlang Päckchen um Päckchen gekauft und gegen den Widerstand meiner Lunge brav inhalieren gelernt. Doch die Sucht kam mir nie zu Hilfe, um bei der Sache zu bleiben. Ohne Suchtmechanik erwies ich mich stets als zu willensschwach, um den allein aus Räsonment gefaßten Entschluß in einen Habitus zu verwandeln. Der Geist war willens, doch das Fleisch zuwenig schwach für die Hingabe an jene Glut, die mir versprach, Körper, Wunsch und Denken zusammenzuschmelzen und mich mit mir selbst so zu vernebeln, daß eine Identität dabei herauskäme, die mir hinfort gestattete zu sagen: Ich bin Raucher!

Nun habe ich das Rauchen aufgegeben, ohne jemals Raucher gewesen zu sein. Als Utopie jedoch lebt die Zigarettensucht in mir fort, sie wächst sogar mit jedem Sieg, den die amerikanische Gesundheitspolizei in Europa erringt. Daß es, wie ich inzwischen erfahren habe, für meine Unfähigkeit zu Rauchen medizinische Erklärungen gibt, lindert nur wenig das Gefühl, mit einem Makel geschlagen zu sein. Peinlich vor anderen ist mir der möglicherweise aufkeimende Verdacht, ich könnte so ein neuer Gesundheitsmensch sein, wo ich doch Möchtegernraucher bin - wer erkennt das schon? Viel peinlicher noch ist der Verdacht, den ich gegen mich selbst hege: psychisch unfähig zu sein, das Leben in vollen Zügen zu genießen. Dann wäre Nichtrauchen mein Symptom.

2

Was "volle Züge" bedeuten könnten, beginnt in der Phantasie eines davon Ausgeschlossenen Blüten zu treiben. Zwanghaft wie einem Süchtigen seine Päckchen fallen mir Gründe ein, die für den Tobak sprechen, wenngleich mir deren empirische Überprüfung verwehrt ist. Wäre es nicht schön, wenn auch ich von der Zigarette dazu legitimiert wäre, ständig mit den Fingern meine Lippen zu berühren und damit ein gierig-sinnliches Verhältnis zu mir selbst und zu meinen Mitmenschen zu signalisieren? Ein solches Signal hat den Vorteil, das Signalisierte sogleich in die Wege zu leiten. Die Zigarette ist eine Self-fulfilling-prophecy, ein Versprechen all des Bösen, das ach so gut tut. Wie schwach an Bedeutung der einzelne Rauchvorgang auch sein mag, stellt doch die Kette eine prinzipielle Verbundenheit mit dem Lustvollen her. Wer raucht, macht damit sich und den anderen klar, daß das Vernünftigsein jederzeit unterbrochen werden kann und wird, um auch noch der kleinsten und unsinnigsten Lust den Vortritt zu gewähren. Der Universalisierung des Prinzips des Aufschubs der Bedürfnisse wird eine Lücke geschlagen, wenn man sich eine Zigarette ansteckt. Man entrinnt der gesellschaftlich getakteten Zeit und räumt sich ein Stück Eigenzeit ein. Niemand kann so gut Pausen machen wie ein Raucher. Mit einem Päckchen in der Tasche ist man stets Herr seiner Zeit: Vergeht sie zu langsam, etwa beim Warten, kann man die Leere rauchend füllen. Stürmt sie jedoch zu rasch voran, wie in der Arbeitshetze, kann man verzögern und kalmieren.

Weil die Hauptobsessionen von uns Westmenschen, die Selbstfunktionalisierung und die Machtinternalisierung, die Tendenz haben, sich zu verabsolutieren, bedürfen wir dringend des Rauchzeugs als Gegengewicht. Was herrscht, muß unterbrechbar sein. Gegenüber den Ordnungen der Zeit, des Raums und der Kommunikation muß es jeweils ein Anderes geben. Gerade im Büro ist die Zigarette dank ihrer Vernunftwidrigkeit ein rettendes Utensil. Inmitten all der Anstrengungen, durch den Aufschub aktueller Begierden später zu besseren Mitteln der Befriedigung zu gelangen, hält die Zigarette im Gedächtnis, daß es bei allen Forcierungen des Selbstbeherrschung letztlich nur um Wunscherfüllung gehen kann. Rauchen ist der tätige Einspruch gegen die Herrschaft des Über-Ich. Ohne, daß man die Arbeit unterbrechen müßte, hält man mit der Zigarette ein Unterpfand in der Hand für einen großen Begriff: den der Menschlichkeit. Darunter ist nicht etwa bloß eine Schwäche zu verstehen, die man sich zugesteht, vielmehr das Bewußtsein der eigenen Fähigkeit zur jederzeitigen Alternative. Die Zigarette verschafft einem Abstand: zu sich selbst, zur Lage, zur Welt. So rituell und stereotyp ihr Gebrauch ist, initiiert sie doch Differenzierung und Bewußtheit. Aus der Welt herauszutreten und die Verhältnisse, in denen man momentan feststeckt, relativieren zu können, sind zu wichtige Eigenschaften, als daß man sie der Eigeninitiative des Willens überlassen könnte. Der dank Suchtmechanismus regelmäßig von außen her auftauchende Signifikant des Distanzierens, die Zigarette, entzündet das Bewußtsein mit der Idee: Es könnte auch anders sein. Jedes Feuerzeugschnippen setzt einen Neubeginn. Als indexikalisches Zeichen leitet es eine Verknüpfung von Jetzt und Ich ein: Jetzt Ich! Das ist der Auftakt zu einem ganz ausdrücklichen Selbst, das jenseits aller Gründe und Zwecke auf Anerkennung auch seiner unsinnigsten Wünsche pocht. In der verabsolutierten Gegenwart beginnt der Raucher aufzuleuchten wie eine Zigarette im Dunklen. Seine Identität tritt hervor wie ein mit schwungvoller Gebärde glutrot unterstrichener Namenszug.

Nicht nur für das Verhältnis des Rauchers zu sich selbst ist die Zigarette ein unverzichtbares Korrektiv gegen die Überzivilisierung - sie vermittelt ihn nicht nur an den Daumenlutscher, der in ihm selber steckt, sondern auch an die anderen, denen sie ebenfalls unterstellt, Bedürfniswesen zu sein. Zwischen den Menschen entsteht eine Zone der prinzipiellen und solidarischen Bedürfnisakzeptanz, die in den Rauchschwaden so objektiv wird, daß keiner mehr was dafür kann. Die getrübte Luft wird zum Fluidum, das Übergänge fließend macht. Rauch baut eine Luftbrücke zwischen den Körpern, damit die Seelen aufeinander zugehen können. Befindet man sich erst einmal im selben Dunstkreis, wandelt sich die physisch oktroierte Nähe alsbald in eine psychische. Rauch ist das präziseste Werkzeug zur Gestaltung all dessen, was man Atmosphäre nennt.

Vor allem für die Genießbarkeit von Restaurants und Kneipen leistet der Rauch einen unverzichtbaren und nicht nur atmosphärischen Beitrag: Wer über tränende Augen klagt, vergißt, wie es ohne Rauch röche: Küchendunst wie in einem Spital oder in der Mensa einer Schule; weiters Parfum- und Schweißgerüche von Menschen, die man weder einzeln noch als Menge riechen mag. Die Milchbar der 50er Jahre: säuerlich, widerlich! In ein Nichtraucherlokal ginge ich nie hinein, nicht nur, weil ich dort freudlose Charaktere vermute, sondern weil die Geruchsvielfalt mich davon abhält, wohlig in die Menge einzutauchen. Dank der Raucher nur gelingt mir die erwünschte Homogenisierung - sie ist mir jede Menge Nichtrauchertränen wert.

Als weitere soziale Tugend der Zigarette verdient die Unverschämtheit eine besondere Würdigung. Der Raucher dehnt seine räumliche Einflußsphäre, ja seine symbolische Ichgrenze ganz ungebührlich aus. Damit verbunden ist stets eine Verletzung der Ichgrenze des anderen. Der gewaltsame Übergriff dringt tief in dessen Körper, in das Zentrum des Lebensatems vor. Da wächst eine Rauchsäule von einer Lunge in die andere hinein. Ganz legitim (zumindest bisher) darf man einander etwas körperlich antun, darf Lungenintimität erzwingen. Nicht zufällig wird in Amerika die Zigarette gleichzeitig mit der "sexuellen Belästigung" inkriminiert. Die Gegner aller Belästigungen übersehen, daß noch nie eine Barriere zwischen zwei Menschen durchbrochen wurde, ohne daß einer die Initiative ergriff, die Sittsamkeit zu verletzen. Ohne unverschämte Grenzüberschreitungen geraten die Menschen nicht ineinander. Der ausgestoßene Rauch ist eine feindosierte Vorhut des großen Angriffs auf die Grenze des Du. Mit jeder Unverschämtheit freilich, die man wagt, geht man das Risiko ein, nicht durchzudringen und als Belästiger empfunden zu werden. Doch dieses Risiko muß man für den anderen eingehen, um ihn mit einer Gelegenheit zur Selbstentgrenzung beschenken zu können. Man muß seinem Gegenüber stets das Verlangen nach Entgrenzung unterstellen, und sei es nur zum Beginn eines kleinen Kaffeehausgesprächs. Weil Raucher dies implizit tun, ziehen sie den Haß der amerikanischen Puritaner auf sich. Diese wollen nicht nur die Körper bereinigen, sondern auch die Kommunikation. Kein Wunder, wenn die Zigarette als Doublette und Vermittlerin zwischen Kommunikation und Körper zum Kristallisationskern ihrer Wut auf das Wünschen wird. Ganz richtig begreifen sie den Rauch als Chiffre für den illegitimen Wunsch schlechthin.

3

Zeichen, wie beispielsweise Zigaretten, sind ganz allgemein nicht nur subjektive Ausdrucksmittel, sondern auch objektive Außendinge, mit denen ein Eindruck erzielt wird, den man immer wieder nötig hat, ohne daß er jemandes Ausdruck wäre: sie sind verselbständigte Beeindruckungsapparate. Weiters sind Zeichen nicht nur Anzeichen von Wirklichkeiten, sondern auch deren Hersteller. Den Intentionen und Realitäten sind sie nicht immer nachträglich, sondern mitunter auch vorgängig. Den Rauchzeichen gelingt es, mit dem bloßen Indizieren eines bestimmten Selbst- und Weltverhältnisses, dieses für die Rauchenden zugleich auch schon realisiert zu haben.

Zigaretten interpretieren Ich, Du, und Welt in vielfältigen Relationen zueinander. So kann man sich mit ihrer Hilfe gegenüber dem Du oder der Welt durchsetzen - etwa jemandem ins Gesicht pusten oder das Zimmer vernebeln. Man kann aber auch umgekehrt sich vom Du und von der Welt ins Ich zurückziehen und die Glut zum Lagerfeuer des narzißtischen Cowboys machen. In einem anderen Fall kann die Zigarette das Du vertreten, sei es als dessen Platzhalter fürs stumme Zwiegespräch in sehnsüchtiger Einsamkeit, sei es als Racheadressat beim grimmigen Ausdämpfen. Man kann im Akt des Rauchens versuchen, sich zurückgewinnen. Desgleichen kann man sich im blauen Dunst verlieren. Raucher sind in der Lage, in jeder Sekunde ihres Lebens sich selbst etwas Gutes zu tun. Damit gewinnen sie ein Stück Unabhängigkeit vom Du, von der Welt, und auch vom wünschenden Ich. In die Position des prinzipiellen Mangels, mit dem das Subjekt geschlagen ist, setzen sie den künstlichen Mangel - das momentane Fehlen der nächsten Zigarette - ein. Die zusätzliche, unnötige Not hat den Vorteil, jederzeit befriedigt werden zu können. Damit verschiebt man das unlösbare Problem des nimmersatten Subjekts in jenes Schlaraffenland, in dem die Zigarettenautomaten stehen. Einem Nichtraucher fehlt alles zu einer so gelungenen Bedürfnisökonomie - nicht nur ein adäquates Befriedigungsmittel, sondern mehr noch ein so trefflich gekünstelter Wunsch.

4

Dem Zorn, den die Antirauchbewegung in mir weckt, kann ich nicht praktisch paffend, sondern nur theoretisierend Luft machen. Meine Argumente indes sind gegenüber ihrem Gegenstand nur Ersatzbefriedigung im schlimmsten Sinne. Zwar mag die Zigarette ein Ersatz für manch banalere Genüsse sein - als Ersatz jedoch läßt sie sich durch nichts ersetzen. Sogar der gute alte Kaugummi wurde mittlerweile umcodiert von ordinär auf mundhygienisch. Dem Geist der Mundhygiene will ich kontern mit einem Papierchen voll von Nervengift. Weil programmatische Nichtraucher, Gesundheitspolitiker und Lungenärztevertreter mich wie ein Streichholzköpfchen explodieren lassen, vermute ich, daß es in deren Kampf gegen die Zigarette um mehr geht. Um Entscheidendes - auch für Nichtraucher.

Vier Argumente führen Rauchgegner gewöhnlich ins Treffen: die Gesundheitsgefährdung des Einzelnen, die Belästigung anderer, die Schädigung der Volksgesundheit als Problem der politischen Ökonomie sowie die moralische Schwäche, die in der Suchtverfallenheit des Rauchers zum Ausdruck komme.

Für das Rauchen hingegen spricht, daß es sich dabei um das global verbreitetste und häufigst ausgeführte Ritual - und damit um die erfolgreichste kulturelle Erfindung der Menschheitsgeschichte handelt. Nutzlosigkeit und gleichförmige Wiederholung unterstreichen in ihrer Kombination den kultischen Charakter des Inhalierens. Unwahrscheinlich, daß das rauchende Drittel der Weltbevölkerung für seine Zigarettenliebe keine guten Gründe hätte.

Den besten Grund hat die englische Zigarettenfirma "Enlightened Tobacco Company" zu ihrem Markenzeichen gemacht: "Death", geschmückt mit Schädel und Gebeinen, gibt die Zigarette als Symbol des Todes zu erkennen und schlägt die vorschriftsmäßig aufgedruckte Warnung des Gesundheitsministers mit Ironie. So wird bewiesen, daß die Schädlichkeit der Zigarette kein Argument gegen sie, sondern das stichhaltigste Argument für sie ist. Man braucht sich daher gar nicht erst bemühen, eine unschädliche Variante zu erfinden. Sie würde nicht gekauft und nicht geraucht, sie wäre sinnlos.

Schon im Jahre 1918 hat Norbert Einstein den Sinn der Zigarette in ihrem symbolischen Bezug zur Endlichkeit des Lebens gesehen: "Jene Flüchtigkeit, die man dem Leben nachsagt, erreicht bei der Zigarette einen bewußten Zustand. Bei der Zigarette erreicht die Eigenschaft der Dinge, über ihr bloßes Dasein hinaus noch in Resten vorhanden zu sein, einen Grenzfall. Denn die Überreste sind von geradezu karikaturistischer Gestalt. Indem wir wissen, daß sich das ganze Leben der Zigarette in ihrem kurzen und flüchtigen Sein erschöpft, suchen wir dieses kurze Sein auf eine merkwürdig rationalistische Weise auszunutzen. In unsere Beziehung zu der Zigarette geben wir nicht lediglich den Wunsch hinein, in eine merkwürdige Erregung unserer Sinne durch sie zu geraten, sondern wir fühlen in jedem Augenblick die Endlichkeit ihrer Wirkung. Die Zigarette ist deshalb eine Karikatur des Lebens, das sich auch darin charakterisiert, daß es in jedem Augenblick Leben ist, aber doch in jedem Augenblick den Tod enthält. Die bewußte Flüchtigkeit der Zigarette, ihr In-Rauch-Aufgehen, ihre ganz visuelle Vergänglichkeit veranlaßt ein geradezu zartes und mitleidiges Verhältnis zu ihr. Wir kennen ihren kurzen Weg, und es erscheint uns deshalb dringend geboten, diesen Weg auf eine besonders innige Weise mit ihr zu gehen. Wie wir mit Menschen, deren baldigen Tod wir kennen, einen besonderen Ton zu finden suchen, der ihn über die näherrückende Scheidung vom Leben entschädigen soll, so legen wir auch in das baldige Scheiden von der Lebenstätigkeit der Zigarette einen schmerzlichen Abschiedsgruß."

Wenn die Zigarette ein "Abschiedsgruß" ist, so ist dessen Adressat der Raucher selbst, der damit sein Leben als Sein zum Tode würdigt. Rauchen ist ein Rendezvous mit dem Tod, so kurz wie ein Grußwechsel. Der Tod läßt grüßen, und man grüßt den Tod. Im Rauchritual tritt man in ein Verhältnis zum Leben als Ganzheit: Wie ein Musikstück eröffnet die Zigarette eine Zeit in der Zeit und thematisiert damit deren Ende. Wie das körperliche Leben insgesamt ist sie nichts anderes als ein in Dingform manifester Prozeß gemächlicher Selbstverbrennung. Mit dem Anzünden erweckt der Raucher dies zarte, in jungfräuliches Weiß gehüllte Wesen zum Leben, doch in kürzester Zeit verwandelt sich das eben noch knospenfrische Papierröllchen in einen stinkenden Stummel, in eine veritable Leiche, deren Seele zum Himmel fährt - welch ein Gegensatz! Todes- und Lebensmetapher sind dabei enggeführt nicht nur zur wechselseitigen Kontrastierung, sondern als zwei Seiten der gleichen Medaille: als Differenz.

Von diesem kleinen Lebens/Todestheater kann man nicht nur Augenzeuge werden, dank der Gesundheitsschädlichkeit des Rauchs darf man auch noch ganz leiblich daran teilhaben. Das Spiel mit dem symbolischen Tod hat im inhalierten Rauch sein reales Standbein. Nicht nur die Zigarette, auch ihr Rauch erweist sich als doppelgesichtig: das Bild der entweichenden Seele steht für den Tod, doch indem man diese Seele inhaliert, belebt man sich damit in animistischer Manier - man führt sich ihre Kräfte zu. So entspringt aus der kleinen Beigabe des Todes eine gesteigerte Lebendigkeit.

Die Gegner des Rauchens indessen werden den Beitrag der Zigarette zur metaphorischen Bewältigung des Todesproblems nicht zu schätzen wissen. Nicht animistische Rituale, nicht Rauchzeichen und Kontemplationen, sondern "vernünftige Maßnahmen zur Steigerung der Gesundheit" halten sie für die bessere, die modernere Umgangsweise mit dem Leben. Sie werden fragen, wozu man Todeskulte und Lebensmetaphern braucht. Und wie aus so etwas Unnötigem ein Argument für systematische Selbstvergiftung gewonnen werden kann? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir etwas ausholen (der Leser macht es sich nun am besten bequem und zündet sich eine Zigarette an):

5

Immer öfter trifft man heute in den Auslagen von Elektronikläden auf Videokameras, deren Bilder simultan auf Monitoren gezeigt werden, sodaß der Flaneur im Gerät sich selbst wie in einem Spiegel beobachten kann. Vor solchen "Closed-Circuit-Video-Installationen," wie sie auch in Kunstausstellungen mitunter präsentiert werden, kann man in schöner Regelmäßigkeit ein menschliches Reaktionsmuster beobachten, das darin besteht, die Zunge herauszustrecken oder sonstige Faxen zu machen. Der Psychologe Friedrich Heubach hat dieses Verhalten so gedeutet, daß es auf die "Gewinnung eines Subjektvorsprungs" ziele. Das Subjekt versucht sich einen Vorsprung gegenüber jener unerwünschten Selbstpräsenz zu verschaffen, die ihm von einer Maschine aufgezwungen wird. Als ob die Initiative zu einer Reaktion dem Subjekt dazu verhelfen könnte, der Gleichzeitigkeit des Videoapparats in Richtung Zukunft zu entrinnen, beginnt es zu handeln um des Handelns willen: Es macht "Faxen", das heißt selbstthematisierende Handlungen. Um die verfolgende Selbstpräsenz auf Distanz zu halten, bevorzugt man abschreckende Gesten, zeigt sich selbst die Zunge. Gestikulierend holt man sich die vom Apparat enteignete Herrschaft über das Selbstverhältnis zurück. Das Subjekt, verstanden als Zeitsprung zwischen Ich und Mich, will weder außen noch im "Closed Circuit" mit sich selbst kurzgeschlossen und vergegenwärtigt sein. Die "Faxen" erzeugen jenen "Subjektvorsprung", der aus der Falle des Geräts befreit und die Souveränität wieder herstellt.

Einen ähnlichen Gedanken hatte schon Sigmund Freud in "Jenseits des Lustprinzips" zur Erklärung des Wiederholungszwangs entwickelt: Ihm fiel auf, daß in scheinbarem Gegensatz zur Allgemeingültigkeit des Lustprinzips auch solche Erfahrungen gerne wiederholt werden, die mit Unlust verbunden sind. Als ein kleiner Knabe eine Spule wieder und wieder unters Bett warf, um sie sogleich an einem Bindfaden wieder hervorzuziehen, bemerkte Freud, daß neben der Freude über die Rückkunft des Objekts auch eine Freude am Verlust unübersehbar war. Die Wiederholung des Objektverlusts im Spiel diene der "Bewältigung des passiven Erlebens" durch dessen Verwandlung in eine Aktivität - "jede neuerliche Wiederholung scheint diese angestrebte Beherrschung zu verbessern", schrieb Freud. Auch hier zielt eine scheinbar unzweckmäßige und sinnlose Handlung, das rituelle Wiederholen eines Objektverlusts, auf die Gewinnung von Souveränität, da etwas passiv Erlittenes in eine Aktivität umgemünzt wird. Man will das Negative in Regie nehmen: daß man selbst es ist, der Unlustiges wiederholt, verschafft einem Lust. Die Lust eines Subjektvorsprungs...

Auch Zigarettenrauchen heißt Wiederholen eines Negativen zur Gewinnung eines Subjektvorsprungs. Die Zigarette ist ein Negativum, weil sie schlecht schmeckt, den Körper schädigt und dessen Endlichkeit zudem noch inszeniert. Schließlich begegnet man in der Kippe einem Verschmutzungsakkumulat mit Leichencharakter und kann so ein wenig dem eigenen Begräbnis beiwohnen. Doch während im Falle des Videoapparats das Subjekt einen Vorsprung gegenüber dem Überschuß an Anwesenheit seiner selbst begehrt, und während im Falle des kindlichen "Fort-da-Spiels" mit der Spule ein Vorsprung gegenüber der drohenden Abwesenheit eines Du zur Wiederholung motiviert, beschert die Zigarette dem Subjekt einen Vorsprung gegenüber der drohenden Abwesenheit seiner selbst, eine Souveränität gegenüber dem Tod.

Daß der Mensch sich vom Tier durchs Zigarettenrauchen unterscheidet, ist bloß die unerwünschte Nebenwirkung seiner Ausstattung mit einem Bewußtsein, daß die eigene Sterblichkeit umfaßt. Mittels Zigarette läßt sich dieses Todesbewußtsein ein wenig externalisieren und in einem Minidrama entsorgen. Rauchen lehrt einen jene Todesverachtung, die man zum Leben braucht. Es schenkt Mut zum Übermut.

In seinem so gelehrten wie vergnüglichen Buch zum "Lob der Zigarette" stellt der amerikanische Literaturwissenschaftler Richard Klein deren "Negativität" ins Zentrum seiner Deutung: "Seit das Rauchen von Zigaretten im neunzehnten Jahrhundert aufkam, ist es mit Ekel, Übertretung und Tod assoziiert worden. Kant nennt jene Form ästhetischer Befriedigung "erhaben", die auch eine negative Erfahrung, einen Schock, ein Gehemmtwerden beinhaltet und eine Ahnung des Todes vermittelt. Wenn Zigaretten gesund wären, erschienen sie uns nicht so erhaben. Zigaretten sind nicht eigentlich schön, sondern erhaben, aufgrund ihrer magischen Kraft, etwas hervorzubringen, was Kant ein "negatives Vergnügen" nennen würde, ein düster-schönes, unvermeidlich schmerzliches Vergnügen, das daraus entsteht, daß es eine Ahnung der Ewigkeit gewährt: Der Vorgeschmack der Unendlichkeit, den eine Zigarette vermittelt, ist genau in jenem schlechten Geschmack lokalisiert, den der Raucher so schnell lieben lernt. Weil sie erhaben sind, halten Zigaretten prinzipiell allen Argumenten stand, die unter dem Gesichtspunkt der Gesundheit oder der Nützlichkeit gegen sie vorgebracht werden. An Gewohnheitsraucher oder Anfänger gerichtete Warnungen vor den Gefahren des Rauchens ziehen diese nur stärker zum Rand des Abgrunds hin, wo sie dann stehen und sich von der großartigen Aussicht auf die eigene Sterblichkeit durchschauern lassen; jeder kleine Zug aus ihrer Zigarette eröffnet ihnen leise mahnend diesen Anblick. Zigaretten sind schlecht. Aus diesem Grund sind sie gut - nicht gesund, nicht schön, aber erhaben."

6

Rauch, als semitransparente Erscheinung, gehört der Ordnung des Geistigen und des Materiellen in gleichem Maße an und kann somit als Mittler zwischen beiden fungieren. Daß er nicht nur symbolisch, sondern auch real ein "Tod auf Raten", eine bis ins homöopathische Fast-Nichts verdünnte, aber dennoch stoffliche Antizipation des Entschwindens von Körper und Seele ist, zieht ihm die Feinschaft der Ärzte zu. Das kleine Ja zum Tod ist ihnen ein Ärgernis.

Unzählige Forschungen wurden angestellt, um zu beweisen, wie viele verschiedene schädliche Stoffe die Zigarette enthält, welche spezifischen Krankheiten von diesen befördert werden und in welchem statistischen Maß. Um zu wissen, daß das Rauchen gesundheitsschädlich ist, hätte es all der diffizilen Beweisführungen indes nicht bedurft. Jeder Raucher bemerkt seine Atemnot, sein morgendliches Husten. Seit es Zigaretten gibt, hat mit Sicherheit noch niemand ernsthaft geglaubt, es sei der Gesundheit zuträglich, sie in die Lunge zu inhalieren.

Die Beweise der Gesundheitsschädlichkeit sind für die Frage, ob es wünschenswert ist, daß in einer Gesellschaft geraucht wird oder nicht, irrelevant. Der medizinische Diskurs übers Rauchen unterschlägt wohlweislich die Reflexion seines Erkenntnisinteresses. Der Wunsch, die Details der Zigarettenschädlichkeit zu untersuchen, geht über das Forschungsinteresse nach Heilmethoden hinaus und zielt auf die kulturpolitische Beweisführung, daß, weil Rauchen ungesund ist, dieses zu verbieten wäre. Der Schluß von der körperlichen Schädlichkeit auf die Bewertung des Gesamtphänomens überschreitet jedoch die methodischen Grenzen der Wissenschaftlichkeit, die von Medizinern gleichwohl stets als Deckmantel über ihr Urteil in ethischen und kulturellen Fragen gebreitet wird.

Für den Arzt, der es den ganzen Tag mit Kranken zu tun hat, die alle gesund werden wollen, liegt es nahe, die Gesundheit als den höchsten, allen Handlungen übergeordneten Wert anzunehmen. Die spezifische Rationalität der Medizin ist von diesem Praxisfeld abgeleitet und bezieht ihre Legitimation permanent aus ihrer Bewährung in diesem. Außerhalb dieses Feldes jedoch steht das Axiom Gesundheit im Konkurrenz zu anderen gesellschaftlichen, moralischen und kulturellen Werten. Eine Ausdehnung des mono-axiomatischen Wertsystems der Medizin auf den ganzen Menschen und auf die ganze Gesellschaft ist eine so absurde wie verwerfliche Anmaßung von Ärzten, die ihre Erfahrungswelt auf den Rest der Welt projizieren. Zum Glück aber ist nicht die ganze Welt ein einziges Spital.

Die Medizin hält die Zigarette fälschlich für eine Kombination aus Schadstoffen und - äquivalent dazu - den Menschen für eine biologische Maschine, deren Funktionieren zu optimieren und zu verlängern sei. Was eine Zigarette überhaupt ist und warum sie in der ganzen Welt existiert, kann innerhalb dieses Ansatzes einer reduktionistischen Anthropologie nicht einmal thematisiert werden. Der Begriff "Sucht" verdeckt die Frage, warum der Mensch süchtig sein will. Im "Suchtverhalten" vermeint man in der Folge einen Beweis für das Automatenmodell zu erkennen. Das positivistische Menschenbild hat gar keine Begriffe zur Verfügung, in deren Rahmen eine planmäßige Selbstschädigung des Organismus Sinn ergeben könnte. Indem die Medizin den Menschen nicht als symbolschaffendes Wesen veranschlagt, redet sie am Zigarettenrauchen vorbei. Der Mensch ist mehr als eine Maschine, die Zigarette mehr als die Summe ihrer Schadstoffe: Im Akt des Rauchens artikuliert der Mensch seinen Protest gegen eben diese Verkürzungen, die ihm von einem institutionalisierten Macht-Wissen als Interpretationen zugemutet werden.

Mit dem Rauchen distanziert sich der Mensch von den Funktionen und Vernünftigkeiten, in die er eingebunden ist und in die er sich auch freiwillig einläßt. Dieses Einlassen erfolgt jedoch niemals gänzlich, und die Zigarette erinnert an das jederzeit mögliche Abstandnehmen auch von selbstgesetzten Zwecken, damit diese als selbstgesetzte und revidierbare kenntlich bleiben und nicht die Herrschaft ergreifen. Erst mit dem Erweis der Freiheit auch zum Unvernünftigen kann eine Bindung an Vernunft anders erfolgen, als in der schlichten Unterwerfung unter ein Gesetz. Die totale Vernunft, ohne Freiheit, wäre keine.

Wie die Zigarette ist auch die Medizin eine Antwort auf den Tod. Sie verspricht, ihn durch Techniken aufhalten zu können. Doch sie kann ihn bisher nur verzögern. Durchs Propagieren des vom Maschinenpark abgeleiteten apparativen Menschenbildes verspricht und erwirkt sie Heilung. Der Patient imaginiert sich nach diesem Modell und hofft auf Teilhabe an der Reparierbarkeit und Todlosigkeit der Maschinen. Dieses Überlebensversprechen der Apparatemedizin ist eine ebenso irrationale und symbolische Reaktion auf das Problem der Sterblichkeit wie das Rauchen. Zigaretten und medizinische Geräte sind gleichermaßen Angebote, sinnhaft mit dem Endlichkeitsproblem leben zu können. Die ersteren verkürzen, die zweiteren verlängern das Leben, doch beide nur mäßig.

Hinter beiden Illusionierungen stehen mächtige Industrien, Verwaltungsapparate und Kapital. Die harte Konkurrenz von Medizinern und Tabakerzeugern ist daraus verständlich. Denn obwohl das Rauchen den Ärzten Patienten verschafft, ist es doch in weit stärkerem Maße eine Infragestellung des ärztlichen Tuns. Bewußte Selbstzerstörung muß von Medizinern als Schlag ins Gesicht empfunden werden, als Zweifel an der Sinnhaftigkeit von Medizin überhaupt. Diesen Affront können manche von ihnen offenbar schwer ertragen und rufen nach Macht und Gesetz. Sie wünschen, daß ihre eigene Rationalität totalitär wird, daß das Leben degeneriert zum Vollzug eines Diätfahrplans, daß der Mensch sich zu sich selbst verhält wie eine per Computer sich selbst steuernde Lungen-Maschine.

Auf den ersten Blick ergibt ein Vergleich zwischen den Segnungen der Medizin und des Tabaks folgendes Bild: Die Medizin hilft dem Körper erstens physisch und zweitens auf dem Umweg über die Seele durch ihr Versprechen prinzipieller technischer Machbarkeit. Die Zigarette hingegen schädigt den Körper und hilft bloß der Seele, indem sie ihr Trost spendet. Diese Bilanz verschiebt sich jedoch, wenn man das sogenannte "Französische Paradoxon" berücksichtigt. Eine in Bordeaux an 34000 Männern durchgeführte Studie ergab, daß diese, obwohl sie bis zu fünf Gläser roten Weines täglich tranken und große Mengen an starken, filterlosen Zigaretten rauchten, auffallend niedrige Mortalitätsraten zeigten. Ärzte erklärten daraufhin, dies könne nur daher rühren, daß die französische Küche so gesund sei, daß der Schaden ausgeglichen würde. Doch ist es nicht offensichtlich, daß Lebenslust und Lebensart einen viel stärkeren positiven Einfluß auf die Gesundheit haben, als deren stoffliche Erwecker schaden können? Man muß einmal den Umkehrschluß wagen: Die psychosomatischen Folgeschäden des Gesundheitskults sind noch nicht erfaßt. Ob der Traum der Ärzte von einem möglichst lustlosen und dafür langen Leben überhaupt in Erfüllung gehen kann, wird sich erst entscheiden. Es könnte sich herausstellen, daß Asketismus und Intoxikation sich in ihrer verkürzenden Wirkung auf das Leben die Waage halten.

7

Bis hierher haben wir den Tabak als Konfliktstoff betrachtet, an dem die beiden etablierten Kulturen der Endlichkeit aneinandergeraten: Die der Lungenmaschine, die Illusion technisch und moralisch herstellbarer Gesundheit einerseits; die des Opferrauchs, des Leichtsinns, des Draufgängertums andererseits. Die erstere will positivieren, was in der zweiteren als "negative Größe" im Sinne der Ästhetik des Erhabenen veranschlagt war. Doch die gegenwärtige politische Aufregung rund um die Zigarette deutet darauf hin, daß diese todeskulturelle Konstellation in eine Krise geraten ist. Es sind die erstaunlichen Versprechungen und Drohungen der Gentechnologie, die dazu zwingen, die eingespielten Bezüge zum Tod in Frage zu stellen. In den verschiedenen utopischen Szenarien des Genzeitalters dürfte die Zigarette jeweils ganz unterschiedliche Rollen spielen:

Das erste Szenario ist das des Zuviel-Wissens, man könnte es auch das der Paranoia nennen. Es ist dadurch gekennzeichnet, daß ein genaues Wissen über die zu erwartenden Ursachen und den Zeitpunkt des Todes entsteht, ohne daß der Tod technisch überwindbar wäre. Nicht nur reale Schrecken löst die Entschlüsselung des Genoms aus, wie etwa Mißbrauch durch Arbeitgeber, Versicherungsgesellschaften oder Liebespartner. Indem das Leben seine prozessuale Offenheit verliert, entweicht ihm der existenzielle Sinn. Mit der Gentechnik entsteht ein neuer Typus von Wissen: das unliebsame, nichthelfende, sinnlose, ja sinnzerstörende Wissen. Literarisch wurde es oft mit dem Motiv des Teufelspakts vorweggenommen. Dies "teuflische" Wissen beendet das weltgeschichtliche Kontinuum des Willens zum Wissen. Es löst die alte Heilsallianz zwischen Wissen, Technik und Wunscherfüllung auf. Erstmals will man etwas nicht wissen, ja kann es gar nicht wissen wollen. Der Bissen zuviel vom Baum der Erkenntnis bleibt im Halse stecken.

Mehrere Reaktionen darauf lassen sich denken: die momentane besteht überwiegend darin, auf die Erkenntnis der Risiken mit deren Minimierung zu reagieren. Diese Tendenz könnte noch zunehmen, bis sie an den Punkt ihrer Absurdität stößt: Nach dem Rauchen könnte man Alkohol verbieten, dann Autofahren, Risikosport, Fett im Essen, Cola, kondomfreien Geschlechtsverkehr, zu langes Fernsehen, Zucker im - beinahe hätte ich ihn vergessen - Kaffee. Es ist das eherne Gesetz jeder Paranoia, sich aufzuschaukeln.

Das längst in Gang gekommene Über-Wissen erzeugt eine kollektive und objektive Paranoia. Der aktuelle Kampf gegen die Zigarette ist ein Symptom dieses Prozesses, der jedoch nicht, wie seine historischen Vorläufer, in irrationalen Ängsten seine Ursache hat, vielmehr in einem Spitzenprodukt der Aufklärung, dem wissenschaftlichen Wissen. Die medial verbreitete Flut von Detailinformationen über die Schädlichkeiten der Zigarette hat in den letzten Jahren diese zum avantgardistischen Symbol des neuen Zu-viel-Wissens werden lassen. Die Verzichtbarkeit der Zigarette rettet für ein Weilchen noch die alte Idee, man könne jedes Wissen brauchen und müsse nur richtig reagieren.

Momentan vergeht uns die Lust aufs Rauchen, weil wir darüber zu viel wissen. Sobald jedoch immer mehr Vollzüge des Lebens in ihrem exakten Beitrag zum Tod gewußt werden, müßte man konsequenterweise aufhören zu leben, weil jedes Tun ein kleiner Beitrag zum Sterben ist - und an diesem Punkt kippt das System: das alte Band zwischen Wissen und Tun zerreißt. Um weiter leben und handeln zu können, muß man vergessen lernen. Gegenüber der Paranoia könnten dann der Zigarette ganz neue kulturelle Aufgaben zuwachsen - etwa den objektiv verhängten Tod in ein subjektives Verhängnis zurückzuverwandeln, oder dem eigenen Wissen gegenüber einen Subjektvorsprung zu gewinnen. Die symbolische Antizipation des Todes könnte gegen die kognitive ein Gegengift sein.

In schärfstem Kontrast zu diesem Szenario der Paranoia steht das zweite mögliche Ergebnis der Gentechnik - das der Unsterblichkeit. Als Laie kann man zwar die Grenzen der Phantasterei nicht beurteilen, doch allein die Möglichkeit läßt einen schaudern. Die alte Vorstellung, der Körper sei eine Maschine, die wie alles Irdische mit den Jahren eben kaputt wird, ist einer neuen Idee gewichen. Sie besagt, daß Zellen an sich unbegrenzt regenerationsfähig sind und Individuen nur deshalb sterben, weil es ein genetisches Programm gibt, das ein Abschalten vorsieht. Dieses Abschalten habe die Funktion, das Kreuzen verschiedener Gene so zu ermöglichen, daß Evolution möglich wird. Findet die Genforschung den Schalter, stünde dem ewigen Leben angeblich nichts mehr im Weg.

Der Sieg über den Tod gilt zwar als ewiger Menschheitstraum. Doch sobald man mit seiner Realisierbarkeit konfrontiert ist, wird man unsicher, ob er tatsächlich wünschbar ist. Die Fragen, die nun anstehen - von Euthanasie bis Pränataldiagnostik, Gentest bis Organzucht - sind unerhört, schreckenerregend und so neuartig, daß man nicht einmal weiß, wo man mit ihrer Beantwortung ansetzen könnte. Alle traditionellen Gewißheiten, betreffend das Leben im Verhältnis zum Tod, stehen derzeit zur Disposition. Der Kulturkampf um die Zigarette ist bloß der symptomatische Nebenschauplatz der krisengeschüttelten Todeskulturpolitik.

Nach der Vertreibung des Todes könnte die Zigarette entweder ein Mittel sein, ihn zurückzugewinnen. Falls sie jedoch dafür nicht stark genug ist, würde sie verschwinden. Denn ohne möglichen Tod hätte dessen Verkörperung keinen Sinn. Wenn jedoch in ferner Zukunft der Tod nur noch als Freitod möglich ist, könnte die Zigarette eine kleine Hilfe sein, um sich mit diesem anzufreunden.

8

Das Verhältnis zum Leben ist paradox. Droht einem der Tod, wünscht man Verlängerung. In der Begegnung mit der konkreten Aussicht auf ewiges Leben jedoch schreckt man zurück. Am Punkt des äußersten Gelingens der Medizin muß man kehrt machen, sich eine Zigarette anzünden und den Tod lieben lernen.

Das Programm der technischen Moderne bestand im Kern darin, Differenzen in die eine oder andere Richtung auflösen zu wollen. Es hatte stets zur Folge, daß sich die Differenzen nur woandershin verschoben. Jede Aufklärung erzeugte neue blinde Flecken, jede Bereinigung ungeahnte Verschmutzungen, jede Machbarkeit gebar Unmöglichkeiten. Ihre Dauer verdankt die technische Moderne dem permanenten Scheitern, dem jeweiligen Gelingen einer Problemverschiebung. Doch wehe, wenn die Auflösung der Differenzen einmal gelänge, wie bei der Überwindung des Todes - das Leben würde sogleich absurd. Man will nicht wirklich beamen können, nicht wirklich Superman sein: kluger Weise nützen die mit Alleskönnerschaft ausgestatteten Helden der Science-Fiction ihre Potentiale nie, um Spaß zu haben. Sie sind eingebettet in Stories, die ihnen in dem selben Maß Hindernisse in den Weg legen, wie es ihren Fähigkeiten entspricht. So bleibt alles beim alten.

Die Zigarette will die Differenz nicht apparativ auflösen, sondern als Differenz anerkennen; sie operiert nicht technisch, sondern kulturell. Die Rauchkultur weiß, daß man das Leben nicht durch seine Totalisierung steigern kann, sondern nur durch die Markierung des Unterschieds zu seinem Gegenteil. Als Todesmetapher dient die Zigarette allein der Hervorhebung des Lebens. So, wie den Fischen erst an der Luft aufgeht, was ihnen Wasser ist, spüren wir Menschen mitten im Leben den Lebensatem nur dann als solchen, wenn ihm ein wenig vom herben Hauch der Negation beigemengt ist.

Vielleicht sollte ich mir nun doch ein Päckchen kaufen gehen, eine neuen Versuch starten, Raucher zu werden? Ja, das werde ich tun. Schließlich fehlt mir ohnehin noch die passende Haltung gegenüber dem dritten Jahrtausend. Und wenn die Raucherei mir wieder mißlingt, bleibe ich eben Zigarettist.


Literatur:

Norbert Einstein: Der Alltag. Georg Müller Verlag München 1918

Richard Klein: Schöner blauer Dunst. Ein Lob der Zigarette. Hanser, München, Wien 1995 (Cigarettes are Sublime, London 1993)

Miriam Özalp: Zwischen Glut und Asche. Spannende Fakten rund um die Faszination Tabakrauch. Verlag der Sparkassen Versicherungs AG, Wien 1998

Friedrich Heubach: Die verinnerlichte Abbildung oder das Subjekt als Bildträger. In: Bettina Gruber, Maria Vedder (Hg.): Kunst und Video. Internationale Entwicklung und Künstler. Dumont, Köln 1983

Dieser Essay ist erschienen in der Zeitschrift "material" 1/99, Zürich.